Meine Liebe zu dir veranlasst mich, nicht um vorzuschreiben, sondern um zu ermahnen, dass, was du weißt, du entweder beachtest oder besser verstehst. Du sollst dich erinnern, dass du in die Provinz Achaia geschickt worden bist, in jenes Griechenland, in dem die Bildung und Wissenschaft erfunden worden sind, dass du zu Menschen geschickt worden bist, die im besonderen Maße Menschen sind, zu Freien die im besonderen Maße Freie sind, die das von der Natur gegebene Gesetz mit Tugend und Glauben festgehalten haben. Bei dir soll Hochachtung sein für das Altertum, Hochachtung für die berühmten Taten, ja auch für die alten Mythen!
Du sollst überlegen, was eine jede Bürgerschaft gewesen ist, damit sie von dir nicht verachtet wird. Du sollst dich vor Hochmut hüten! Denn du weißt genau, von wem die Perser besiegt worden sind, von wem Europa gerettet worden ist. Fürchte keine Missachtung, wenn du danach strebst, dass du dir die Liebe der Menschen durch Sanftmut für dich gewinnst, dass du dich von Schrecken fernhältst. Denn die Furcht schwindet, wenn du dich zurückziehst, die Liebe [aber] bleibt. Du sollst vor Augen haben, dass dies das Land ist, von dem uns Gesetze nicht als Besiegte sondern als Bittende gegeben worden sind. Zu jeder Zeit sollst du dir sagen, dass du zu freien Menschen und nicht zu Sklaven geschickt worden bist. Du sollst die Freiheit jener Menschen nicht verringern! Wer nämlich soll leugnen, dass das höchste Übel schändliche Knechtschaft ist, die Freiheit das höchste Gut. Dies sollst du mir glauben, was ich dir zu Anfang gesagte habe: Ich schreibe mahnend, nicht vorschreibend – obwohl es offensichtlich ist, dass ich auch vorschreibend geschrieben habe. Ich jedenfalls befürchte nicht, dass ich dieses Maß nicht bewahre. Denn es besteht nicht die Gefahr, dass es zu viel ist, weil es am wichtigsten sein muss.
Lebe wohl!
Lektionstext 12
Weißt du, warum die Römer mit so vielen Völkern und Königen so viele Kriege geführt haben? Weil sie nach Macht und Reichtum gierig sind! Da ihnen bei ihrem Vordringen nach Westen das Weltmeer Einhalt gebot, richten sie ihre Waffen nun gegen Osten. Ich zweifle nicht, dass sie zum Verderben der Welt erschaffen sind, sie, die von Anfang an nur Geraubtes besaßen. Nicht einmal sie selbst versuchen zu verheimlichen, wie sie sich unter der Herrschaft des Romulus Frauen geraubt haben. Auch alles Übrige haben sie sich erworben, indem sie andere ausplünderten und umbrachten. Und das ist nicht erstaunlich, da ja jener Romulus durch den Brudermord das Königtum an sich riss. Somit ist klar, dass du in großer Gefahr schwebst, weil die Römer weder menschliches noch göttliches Recht achten. Überlege, wie viele Festungen, Städte, Königreiche sie vernichtet haben, wie viel schändliche Taten sie aus Neid und Habgier begangen haben. Daher ermahne ich dich, dass du dich vor den Römern in Acht nimmst, weil sie ja nicht nur mich, sondern auch dich als Beute haben wollen. Hoffe nicht, dass du, wenn ich besiegt bin, mit ihnen Frieden haben kannst. Glaube auch nicht, dass dein großer Reichtum dich schützten kann. Er wird dich viel mehr falls du nicht deinen Verstand zusammen nimmst, ins Verderben stürzen. Römer haben Waffen gegen alle, besonders gegen die, bei denen die Beute groß ist. Niemand kann ihrer Habgier entgehen. Zögere also nicht mir zu Hilfe zu kommen und lass nicht zu, dass ich besiegt werde! Höchsten Ruhm wirst du ernten, wenn wir unter deiner Führung die Räuber der Völker bezwungen haben. Dass du das tust, dazu fordere ich dich auf! Du wirst es nämlich schaffen! Leb wohl!
Lektionstext 13
Ich würde diese Rede nicht halten, wenn ich nicht wüsste, wie viel Worte bei euch gelten. Aber da ich sehe, dass ihr durch die Äußerungen der Aufrührer völlig verwirrt seid, habe ich beschlossen einiges zu erörtern, welches euch sicher nützlich sein wird. Die römischen Herrscher haben von keiner Begierde bewegt euer Land betreten, sondern weil eure Vorfahren sie riefen, als sie von Uneinigleiten heftig gequält wurden. Und wir haben uns nicht deßhalb am Rhein festgesetzt, um Italien zu verteidigen, sondern damit die Germanen nicht wiederum in Gallien eindringen und es weit und breit verwüsten. Erkennt ihr etwa nicht, warum die Süben und warum andere germanische Völker ihren Wohnsitz gewechselt haben? Aus keinem anderen Grund als um, nachdem sie ihre Felder verlassen haben, diese Äcker und euch selbst zu besitzen und um Herren zu sein, während ihr dient. Königsherrschaft und Kriege hat es in Gallien immer gegeben, bis ihr unsere Rechtsordnung übernommen habt. Wir aber haben euch, nachdem ihr besiegt worden wart, nur dies auferlegt, was nötig war, damit ihr Frieden habt und vor Feinden sicher seid, denn es kann weder die Ruhe der Völker ohne Waffen, noch können Waffen ohne Sold, noch Sold ohne Tribute sein. Alles Übrige ist sowohl uns als auch euch gemeinsam: Ihr selbst steht meistens an der Spitze unserer Legionen, ihr selbst leitet diese und andere Provinzen. Nichts ist euch verschlossen. Liebt also, da ihr mit Ehren und ruhig leben könnt, den Frieden und bedenkt folgendes: Wenn unsere Truppen nicht gesiegt hätten, wenn sie von den Aufrührern in Gallien vertrieben worden wären, was hätte ihr sonst als Kriege unter den Stämmen?
Lektionstext 14
Germanicus schickte den Legaten Caecina mit vierzig römischen Kohorten durch das
Land der Brukterer an die (an den Fluss) Ems; die Reiter führte der Präfekt Pedo; er selbst
verlud vier Legionen auf Schiffe und transportierte sie durch die weite Seelandschaft
(große Seen). Nachdem die Brukterer besiegt waren, fand man unter der Beute das
Feldzeichen der neunzehnten Legion, das mit Varus verloren gegangen war.
Darauf wurde das Heer ins hinterste Bruktererland (zu den entferntesten Brukterern)
geführt, nicht weit vom Teuteburger Wald, wo jenes Heer des Varus durch Hinterlist der
Feinde vernichtet worden war. Weil nämlich das Gelände zum Kämpfen ungeeignet war,
hatte es sich nicht einmal durch den Rückzug retten können.
Germanicus aber überkam das Verlangen nachzuforschen, wo die Gebeine des Varus und
jener drei Legionen lägen.
Daher schickte er Caecina zur Erkundung voraus. Bald betrat auch Germanicus die durch
ihren Anblick und die Erinnerung entsetzlichen Orte. Er hatte nämlich den Plan gefasst
den Soldaten und ihren Führer die letzte Ehre zu erweisen. Zuerst fand man das Lager
des Varus, dann die bleichen Gebeine der Soldaten. Auf dem Schlachtfeld lagen auch
zerbrochene Waffen und Pferdeskelette, an den Bäumen aber waren Menschenschädel
angenagelt.
Als die Soldaten, um nchzuforschen, den nahen Wald betraten, fanden sie die Altäre der
Barbaren, an denen (wo) die Tribunen und Zenturionen hingeschlachtet worden waren. Es
gab im Heer einige, die sich durch rasche Flucht aus jener Niederlage gerettet hatten.
Diese berichteten, hier seien die Legaten gefallen, dort die Feldzeichen erbeutet worden;
manche erinnerten sich, wo Varus die erste, wo er die zweite Wunde empfangen und wo
er von eigener Hand den Tod gefunden hatte.
So begrub also das römische Heer im sechsten Jahr nach der bitteren Niederlage die
Überreste von drei Legionen und Germanicus, dem daran gelegen (der begierig) war, die
Erinnerung an die Erschlagenen zu bewahren, legte das erste Rasenstück.
Tiberius aber tadelte Germanicus, da er glaubte, die Kampfkraft (die tapferen Herzen) der
Soldaten sei geschwächt worden bei der Bestattung von so vielen tausend Menschen.
Lektionstext 15
Die Germanen bemühen sich nicht um den Ackerbau und der größte Teil ihres Lebensunterhaltes besteht aus Milch, Käse und Fleisch. Und kein einziger hat ein eigenes Gebiet, sondern die Magistrate teilen für einzelne Jahre den Völkern die Äcker zu und sie zwingen die Stämme im Jahr danach von diesen zugeteilten Äckern wegzugehen. Sie sagen, dass sie das aus vielen Gründen machen: Damit die Begierde Kriege zu führen nicht verringert wird; damit nicht irgendein Mächtiger seine Grenzen vergrößert und die Armen von ihren Äckern vertreibt; damit sie nicht anfangen den Luxus zu lieben; damit sie nicht dazu veranlasst werden begierig nach Geldbesitz zu sein, doch der wichtigste Grund ist die Neid und die Zwietracht. Außerdem hoffen sie, dass das Volk ruhig sein wird, da jeder sieht, dass sein Besitz mit den Mächtigsten gleich ist. Es gilt als größte Ehre für die Stämme einen möglichst breiten Streifen verwüsteter Erde um sich herum zu haben. Sie glauben, dass dies ein Kennzeichen von Tapferkeit sei und sie glauben, dass sie sicher sein werden. Und die Raubzüge sind für niemanden eine Schande, wenn sie außerhalb des jeweiligen Stammesgebiet stattfinden. Und sie behaupten diese zur Übung der jungen Männer und zur Verringerung der Trägheit. Und immer wenn irgendjemand von den Führern im Rat sagt, dass er mit irgendeinem Feind Krieg führen wolle, versprechen diese, die begierig danach sind sich Ruhm oder Beute zu verschaffen, sehr schnell ihre Hilfe und werden von der Menge mit den tapfersten Männern verglichen. Aber diejenigen, die sagen, dass sie zu Hause bleiben, die werden sehr häufig und auf das Heftigste beschimpft. Sie glauben, dass es nicht erlaubt sei die Gäste zu verletzen; die die zu diesen gekommen sind, von denen halten sie Unrecht fern und diesen stehen die Häuser von allen offen, diese unterstützen sie durch ihren Lebensunterhalt und ihnen wird mehr gegeben, als sie fordern